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Dieses Interview wurde ursprünglich vom «Schweizer Monat» als Studio Libero No.18 am 13. September 2021 aufgezeichnet. Transkribiert und für Layoutzwecke bearbeitet vom UBS Center.
Florian Scheuer, wie gravierend ist global gesehen, das Problem der Ungleichheit?
Ja, es ist einfach viel mehr in den Fokus gerückt, die letzten Jahre. Wir erinnern uns ja alle an das Buch von Thomas Piketty „Das Kapital im 21. Jahrhundert“. Und ich glaube, dieses Buch und die ganze Publicity seither um das Buch, hat viel Aufmerksamkeit wieder gelenkt auf dieses Thema. Es ist viel dokumentiert worden, in den USA vor allem, dass die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen drastisch zugenommen hat, seit etwa Ende der 70er Jahre, Anfang der 80er Jahre. Und ähnliche Tendenzen hat es auch in anderen Ländern gegeben. Wenn man sich Grossbritannien anguckt, wenn man sich einzelne europäische Länder anguckt, gibt es auch eine Zunahme der Ungleichheit, allerdings nicht so ausgeprägt, wie in den Vereinigten Staaten. Und auch in der Schweiz ist das Thema wieder mehr in den Vordergrund gerückt, auch durch diverse Referenten in den letzten Jahren und Jahrzehnten. Und die Schweiz ist vielleicht so ein bisschen ein Sonderfall, dass die Einkommensungleichheit nicht so stark zugenommen hat, wie in vielen anderen Ländern. Sie ist relativ stabil geblieben. Aber auch die Vermögensungleichheit hat in der Schweiz zugenommen. Und deswegen ist, glaube ich, auch hier in der politischen Debatte das Thema jetzt auch wieder stärker in den Vordergrund gerückt.
Wie schlimm ist es denn in einem gesamthistorischen Kontext? Haben wir diese Ungleichheit schon einmal erlebt in der Geschichte?
Ja, also wenn man ganz weit zurück geht, vor den zweiten Weltkrieg, in den 20er, 30er Jahren, dann hatte man in der Zeit auch ähnliche Konzentrationen. Wenn man jetzt zum Beispiel mal den Einkommensanteil nimmt, der an die obersten ein Prozent gegangen ist, dann hat man schon im historischen Verlauf solche Konzentrationen auch erlebt, vor allem in den USA, zum Beispiel. Das waren natürlich auch Zeiten, wo es noch kein ausgeprägtes, progressives Einkommenssteuersystem gab, wo es viel weniger Marktregulierung gab. Die Anti-Trust-Bewegung, und so weiter, gab es damals noch nicht, das heisst, es gab sehr starke, sehr mächtige, reiche Menschen, die wir alle kennen, Rockefeller, und so weiter. Auf dem Niveau etwa ist man jetzt wieder angekommen, wenn man sich die Zahlen anguckt - die jüngsten Zahlen, zum Beispiel, des Anteils, der an die obersten ein Prozent geht.
Eine wichtige Unterscheidung ist ja jene zwischen Einkommen und Vermögen. Jetzt in den USA, ist auch beides ungleich verteilt?
Also die Vermögen sind immer in allen Ländern viel, viel ungleicher verteilt, als die Einkommen. Aber die Einkommensungleichheit hat auch zugenommen in den USA. Wenn man sich den Anteil der obersten ein Prozent anguckt, zum Beispiel, der war, bis in die 80er Jahre hinein, etwa bei dem Einkommen bei etwa zehn Prozent. Also die obersten ein Prozent hatten zehn Prozent der Gesamteinkommen. Und das hat sich jetzt mehr als verdoppelt, der Anteil ist inzwischen bei fast 25 Prozent. Bei den Vermögen ist die Konzentration nochmal viel stärker. Das oberste ein Prozent der USA besitzt fast die Hälfte des Gesamtvermögens. Also es ist nochmal doppelt so viel wie diese 25 Prozent, die man von den Einkommen kennt.
Und wie sieht es in der Schweiz aus?
Bei den Einkommen ist es in der Schweiz deutlich weniger konzentriert. Also der Anteil, der an die obersten ein Prozent geht, bei der Schweiz, lag historisch immer stabil, so etwas unter zehn Prozent, acht, neun Prozent. Und ist jetzt leicht angestiegen auf etwas über zehn Prozent, vielleicht elf, zwölf, in den letzten Jahren. Also es ist etwa nur halb so viel wie in den USA, also eine deutlich stabilere und auch ausgeglichenere Einkommensverteilung. Und da fällt die Schweiz wirklich auf im internationalen Vergleich. Bei der Vermögensverteilung allerdings, ist sie wirklich auch international relativ ausgeprägt. Also der Anteil der obersten ein Prozent bei den Gesamtvermögen, ist auch etwa 43 Prozent in der Schweiz nach jüngsten Zahlen. Und hat auch zugenommen in den letzten 20 Jahren, von unter 40, also 37 Prozent noch Anfang der 2000er Jahre auf jetzt über 40 Prozent. Allerdings muss man da auch immer so ein bisschen im Hinterkopf behalten, dass das nur die steuerbaren Nettovermögen sind. Das ignoriert einen grossen Anteil der Vermögen, die wir in der Schweiz zum Beispiel in den Pensionskassen haben, die nicht in der Steuererklärung auftauchen. Wenn man die einrechnet, senkt sich die Konzentration etwas ab. Weil es natürlich viele Leute gibt, die jetzt nicht sehr reich sind, aber doch beträchtliche Summen angespart haben in diesen Pensionskassen der zweiten Säule.
In der Debatte in den Wirtschaftswissenschaften haben Sie ja die Bedeutung des Buches von Thomas Piketty bereits angesprochen. Sie haben auch gesagt, die Ungleichheit, die wächst ja schon länger an. Das ist ja kein neues Phänomen seit Piketty, sondern schon ein bisschen zuvor. Wie können Sie sich das erklären, dass es bis Piketty dauerte, bis die Ökonomen merkten: 'Hey, die Ungleichheit ist ein wirkliches Problem.'
Es ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Ich glaube, die Ökonomen haben sich schon auch mit dem Thema befasst. Wenn man die New York Times gelesen hat, in den USA, dann hat sie schon viel länger diese Ungleichheitsthemen sehr stark forciert. Piketty ist zu einer Zeit gekommen, als das Thema quasi schon reif war für die Öffentlichkeit und auch die Öffentlichkeit empfänglich war dafür, weil es sich dann noch einmal verstärkt hat – ich würde auch sagen, nach der Finanzkrise mit dem Occupy-Movement, was ja auch schon vorher war. Überhaupt der Begriff „Die 99 Prozent versus die 1 Prozent“ – das kam ja mit der Occupy-Bewegung nach der Finanzkrise. Das heisst, es gab sowieso schon dann zunehmende Zweifel, ob diese sehr hohen Einkommen auch wirklich gerechtfertigt sind. Ob sie vielleicht auch überhaupt zum Wohl des Rests der Gesellschaft erwirtschaftet werden. Oder ob sie vielleicht auf Kosten der unteren 99 Prozent erwirtschaftet werden. Das heisst, die Debatte war schon vorher eigentlich, zumindest mit der Finanzkrise und so weiter, im Anflug. Und Piketty hat das dann quasi nur verstärkt.
Welche wirtschaftlichen Konsequenzen bringt dann eine hohe Ungleichheit mit sich?
Also es führt natürlich zu vielen Effekten, eine Frage zum Beispiel ist bei der Vermögensungleichheit: „Wie gut sind die Leute dann abgesichert, die sehr, sehr wenig ansparen?“ Da muss man natürlich auch im Hinterkopf behalten, dass die Vermögensungleichheit reagiert auf das soziale Absicherungssystem. Wenn ich quasi schon ein sehr grosszügiges Sozialversicherungs- und Rentensystem habe, dann muss ich auch nicht nochmal privat so viel zusätzlich an Vermögen ansparen, um im Alter dann auch abgesichert zu sein. Das heisst, das muss man auch im Kontext betrachten. In den USA hat es einen grösseren Effekt. Man hat gesehen, als man die Government Shutdowns hatte, zum Beispiel. Wenn es Budgetverhandlungen gab zwischen dem Präsidenten und dem Kongress, und es keine Einigung gab, dass die Leute nach einem Monat Gehaltsausfall dann quasi schon nichts mehr hatten, konnten ihre Miete nicht mehr zahlen. Ein wirklich grosser Teil der Bevölkerung hat keinen Puffer gebildet. Und das hat natürlich dann schon auch einen Effekt auf die Gesamtwirtschaftliche Nachfrage, auf das Zinsniveau, und so weiter.
Und auch auf das Wachstum?
Und auch auf das Wachstum, ich mein, das ist natürlich-, hier spielt glaube ich eine grössere Rolle die Chancengleichheit und das Bildungssystem, dass man wirklich die Innovationskraft der Gesamtwirtschaft und auch der Bevölkerung optimal nutzt. Davon hängt ab, dass dann natürlich auch wirklich alle die Chancen haben, ihre Ideen zu verwirklichen. Die Vermögensungleichheit ist ja dann oft erst ein, im Nachhinein, ein Ergebnis der Innovationskraft. Dass Leute gute Ideen hatten, und deswegen dann sehr reich geworden sind. Und teilweise natürlich auch schon vorgegeben durch die vorherige Generation, wenn man hohe Persistenz hat, also hohe Erbschaften, die weitergegeben werden von den vorherigen Generationen auf die jetzige.
Ein kontroverser Begriff in der Debatte ist ja das Kapitaleinkommen. Was ist denn überhaupt so ein Kapitaleinkommen?
Also, wenn wir jetzt auf die Terminologie der Initiative konkret eingehen. Oder auch allgemeinen, dann besteht das eigentlich aus zwei Teilen, es geht um Zinseinkommen, Mieteinkommen, Dividendeneinkommen. Das sind Kapitalerträge. Und dann natürlich, vor allem am oberen Ende der Einkommensverteilung, geht es vor allem um Kapitalgewinne. Das heisst, wenn ich investiert habe in verschiedene Vermögenstitel, Unternehmen oder auch Häuser, Immobilien, dann nehmen die an Wert zu, und wenn ich die dann wieder veräussere, dann habe ich Kapitalgewinne erzielt, das sind dann auch Kapitaleinkommen.
Und wenn man bei Piketty in die Datensätze schaut, dann wird einem auffallen, dass sich irgendwie zwischen Arbeitseinkommen und Kapitaleinkommen in den letzten Jahrzehnten ein bisschen etwas verändert hat.
Vor allem am oberen Ende der Verteilung, sind vor allem die Kapitalgewinne extrem wichtig. Der grösste Teil der Bevölkerung hat vor allem Arbeitseinkommen und vernachlässigbare Kapitaleinkommen und auch Kapitalgewinne. Aber wenn man ganz hoch geht, zu den sehr, sehr reichen Haushalten, dann sieht man in den Steuerdaten, dass die Kapitalgewinne vor allem extrem wichtig sind. Also wenn man sich wirklich die reichsten Haushalte anguckt, jedes Jahr in der Steuererklärung, dann sind fast die Hälfte ihrer Einkommen Kapitalgewinne, wie in den USA zum Beispiel.
Und Arbeitseinkommen und Kapitalgewinne, die werden dann unterschiedlich besteuert. Wie sieht das aus?
Also die Schweiz ist ein Extremfall. Wir haben keine Kapitalgewinnsteuer, die sind völlig steuerfrei. Die meisten anderen Länder haben eine Kapitalgewinnsteuer, aber wie Sie schon sagen, sie ist oft niedriger als der Spitzensteuersatz selbst auf die Arbeitseinkommen. In den USA zum Beispiel momentan halb so hoch, 20 Prozent statt 40 Prozent Spitzensteuersatz. Und es gibt viele andere Vorteile sein Einkommen in Form von Kapitalgewinnen zu erzielen. Ich muss zum Beispiel erst dann versteuern, wenn ich diese Kapitalgewinne auch realisiere. Also wenn ich die zugrunde liegenden Vermögenstitel wieder verkaufe, das kann oft sehr, sehr spät sein, oder auch gar nie. Und wenn man jetzt an Jeff Bezos denkt, der besitzt Amazon-Aktien, verkauft sie nicht. Das heisst, er muss keine Steuern zahlen, solange er sie nicht verkauft. Und in den USA momentan ist diese Zusatzregel, dass, wenn ich sie während meiner Lebenszeit nie verkaufe, dann muss ich auch gar nie Steuern darauf zahlen. Das heisst, wenn er sie vererbt an seine Kinder, dann entfällt komplett die Steuerlast.
Also kann man grundsätzlich sagen, dass die zunehmende Ungleichheit auch damit etwas zu tun hat, dass wir das Steuersystem haben, das an gewissen Fronten einfach ein bisschen Vorteile bietet.
Bei den Kapitalgewinnen ganz eindeutig. Und das ist auch erkannt worden, glaube ich, von vielen Regierungen, dass da ein Schlupfloch entstanden ist. Was auch ein Problem ist, ist natürlich, dass es oft nicht so klar ist zu unterscheiden, zwischen Arbeitseinkommen und Kapitalgewinnen, vor allem. Wenn ich jetzt zum Beispiel als junger Mensch ein Start-Up gründe mit einigen Freunden, und ein paar Jahre für dieses Start-Up arbeite, dann kann ich mir oft keinen sehr hohen Lohn zahlen, in dem Start-Up, da es noch nicht sehr viel Cash gibt, keine grossen, flüssigen Einnahmen, sondern der Hauptteil der Kompensation ist dann, dass nach ein paar Jahren, ich das Start-Up vielleicht verkaufen kann an eine grössere Firma, mit einem Gewinn und meine Anteile an diesem Start-Up dann an Wert zugenommen haben. Das heisst, das sind Kapitalgewinne. Aber diese Kapitalgewinne sind natürlich nichts anderes, ökonomisch, als Kompensation für die Arbeitskraft, die ich investiert habe über diese Jahre in diese Firma. Und dann ist es schon fraglich, ob man dann sagen soll, wie zum Beispiel jetzt in der Schweiz: 'Diese Art von Arbeitseinkommen, die steuerlich als Kapitalgewinne behandelt wird, aber ökonomisch einfach Arbeitseinkommen ist, warum soll die komplett steuerfrei sein? Und wenn ich mir Löhne bezahlt hätte, wäre es besteuert worden.'
Glauben Sie also, dass unser Steuerdenken, unser traditionelles Steuersystem, noch ein bisschen veraltet ist, in dieser Hinsicht?
Naja, in der Schweiz muss man ja dazu sagen, dass es die Vermögenssteuer gibt. Die ist ja so ein bisschen ein Substitut für die fehlende Kapitalgewinnsteuer. Aber eben nicht komplett, sie ist nicht so progressiv wie die Steuer auf die Arbeitseinkommen, sie ist relativ niedrig. Da kann man jetzt drüber streiten, ob sie zu niedrig ist, oder zu hoch ist. Aber im Vergleich zum Beispiel zu dem, was momentan in den USA diskutiert wird, ist sie relativ niedrig, mit höchstens, in den meisten Kantonen unter 0,5 Prozent pro Jahr. Das heisst, ich glaube, in diesem Bereich ist schon Reformbedarf gegeben.
Sie haben die Vermögenssteuer gerade angesprochen in der Schweiz. Das ist ja im internationalen Kontext schon beinahe ein Unikat. Das sind, glaube ich, vier OECD-Länder, die das haben. Wie kann man sich das erklären, wieso gibt es keine Vermögenssteuern im internationalen Kontext?
Es gab ja Vermögenssteuern in über zwölf OECD-Ländern, noch bis Ende der 90er Jahre. In Dänemark, in Niederlanden, auch Deutschland hatte eine Vermögenssteuer, Frankreich, Italien. Und sie ist abgeschafft worden, nach und nach, von immer mehr Ländern. Wie Sie schon sagen, die Schweiz ist eines von jetzt noch drei übrigen Ländern, zusammen mit Norwegen und Spanien. Wobei Norwegen und Spanien keine wirklich signifikanten Einnahmen damit erzielen, nur die Schweiz wirklich stabil, etwa ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Das ist eine sehr stabile und auch, glaube ich, demokratisch eine Steuer mit viel Unterstützung in der Schweiz. Sie hat immer wieder Attacken überlebt, in Referenden. Was die OECD-Länder vorgebracht haben, warum sie die Vermögenssteuer abgeschafft haben, da ging es sehr stark um die Erodierung der Steuerbasis, dass es immer mehr Ausnahmen gab für Unternehmensbeteiligungen und so weiter, und dass es dann, ein bisschen wie mit der Erbschaftssteuer, immer weiter bergab ging und sich irgendwann dann nicht mehr gelohnt hat, die Erhöhungskosten einzugehen, gegeben wie wenig Einnahmen man dann noch damit erzielt hat. Vielleicht ist die Steuerbasis war einfach nicht breit genug von den OECD-Staaten. Es gab zu viele Ausnahmen.
Lassen Sie uns noch ein bisschen über die Progression sprechen. Sie haben ja schon angetönt, dass da auch ein bisschen eine Verbesserung stattgefunden hat. Die Progression greift nicht an allen Ecken so stark, wie an anderen. Können Sie das noch einmal kurz erläutern, wie Sie das gemeint haben?
Also die Progression des Gesamtsteuersystems hängt eben sehr stark davon ab, in welcher Form ich mein Einkommen erziele. Und aufgrund der Bevorteilung von Kapitalgewinnen gegenüber Arbeitseinkommen, ist es eben so, dass ich sehr, sehr reich sein kann, ökonomisch sehr hohes Einkommen haben kann, weil mein Vermögen sehr stark wächst, aber mein Durchschnittssteuersatz sehr, sehr gering ist. Wenn man sich jetzt Jeff Bezos anguckt, zum Beispiel, was für Steuern zahlt er? Amazon zahlt natürlich Unternehmenssteuern auf Unternehmensebene. Da gibt es Diskussionen, wie viel konkret Amazon da bezahlt, weil es ja auch Berichte gibt, dass sie ihre Gewinne in Tax Havens parkieren, wo die Körperschaftssteuer sehr, sehr gering ist. Aber die durchschnittliche amerikanische Unternehmung zahlt etwa 16 Prozent Unternehmenssteuer. Das ist das, was vielleicht im besten Fall auch Amazon zahlt. Und dann würde er eben nur dann noch persönliche Einkommenssteuern zahlen, wenn er auch Amazon-Aktien verkauft. Und selbst, wenn er das tut, ist es wieder privilegiert quasi, dass ich nur den halben Steuersatz habe, nur 20 Prozent statt 40 Prozent Spitzensteuersatz. Das heisst, man kommt einfach nicht auf sehr hohe Durchschnittssteuersätze für diese sehr, sehr reichen Menschen, die sehr viel Kapitalgewinne erzielen. Und das ist schon länger bekannt, Warren Buffet hat das schon kritisiert, dass sein Durchschnittssteuersatz geringer ist, als der seiner Sekretärin und dass das nicht gerecht sein kann. Und die Buffet-Rule gab es dann in der Obama-Regierung. Also da gibt es schon länger Diskussionen, wie man damit umgehen könnte.
Gilt das auch in der Schweiz?
In der Schweiz quasi noch extremer, da wir ja gar keine Kapitalgewinnsteuer haben. Wir können es in den Daten nicht so genau sehen, wie in den USA, weil die Kapitalgewinne überhaupt nicht auf den Steuererklärungen auftauchen. Aber, es ist auch in der Schweiz so, dass wenn ich mein Einkommen vorwiegend in Form von Kapitalgewinnen habe, dass ich dann einen geringeren Steuersatz habe, im Durchschnitt.
Und die Progression in der Vermögenssteuer kann das nicht abfedern? Das wäre nicht ausreichend.
Könnte, aber das ist eben nicht der Fall, dass die Vermögenssteuer so progressiv ist. Die meisten Kantone haben sie auf relativ geringem Niveau. Und es gibt einzelne Kantone, wie der Kanton in Genf, der bis ein Prozent hoch geht, oder etwas über ein Prozent. Aber die meisten Kantone nicht. Und die Vermögenssteuer ist auch in der Schweiz so ausgestaltet, dass die jetzt nicht auf die Superreichen vorwiegend abzielt, sondern sehr viele Leute zahlen Vermögenssteuer. Die Freibeträge sind relativ gering, also auch Nicht-Millionäre zahlen schon im geringen Masse Vermögenssteuer. Das heisst, die Umverteilungskraft der Vermögenssteuer per se ist jetzt nicht so ausgeprägt in der Schweiz.
Und das ist dann politischer Wille, wie man die ausgestaltet?
Ja, das ist vielleicht einer der Gründe, warum sie politisch so stabil und auch beliebt ist, dass sie eben nicht massiv als Umverteilungsinstrument eingesetzt wird, sondern vor allem als Instrument, um einen Namen zu erzielen.
Kommen wir noch kurz auf die 99 Prozent-Initiative der JUSO zu sprechen, die steht ja an. Ende September stimmen wir darüber ab. Und die JUSO, die knüpft sich dabei ja die Kapitaleinkommen vor. Können Sie kurz erklären, was der Mechanismus hinter der Initiative ist?
Die Idee ist erstens, die grosse Änderung in dem Steuersystem wäre, dass man eine Kapitalgewinnsteuer einführt, also dass auch Kapitalgewinne steuerpflichtig wären, weil sie als Teil der Kapitaleinkommen gezählt werden würden. Das wäre also wirklich ein Systemwechsel für die Schweiz, die ja bisher auf die Vermögenssteuer stattdessen gesetzt hat. Und dann ist die Idee, dass man über einen gewissen Freibetrag, der nicht genau festgelegt ist, Kapitaleinkommen für die Steuer höher gewichtet, 50 Prozent höher ansetzt, die Steuerbasis, und damit auch die Steuerpflicht dann höher ist als auf Arbeitseinkommen. Das heisst auch Mieten, Dividenden, Zinseinkommen würden dann höher besteuert werden über diesen Freibetrag.
Das klingt jetzt ein bisschen abstrakt noch. Was bedeutet das denn konkret? Sagen wir mal, diese Grenze liegt bei 100 000 Franken, wie es die JUSO vorschlägt. Wenn mein Vermögen jetzt bei 150 000 ausfällt, was würde das für mich heissen, diese 150 Prozent?
Also vom Vermögen wäre das erstmal unabhängig. Ich müsste dann Kapitaleinkommen haben über 100 000 Franken in einem Jahr, das ist schon sehr hoch, wenn ich nur Zinseinkommen habe. Bei den momentanen Zinssätzen, da müsste ich ein riesiges Vermögen haben, um über 100 000 jetzt an Zinseinkünfte zu kommen. Wenn ich da drüber liege, müsste ich diese Zinseinkünfte dann eben zu 50 Prozent höher ansetzten in meiner Steuererklärung. Die würden dann auch so besteuert.
Jetzt die Gegnerschaft, die kritisiert ja, dass die JUSO zwar die Superreichen ins Visier genommen hat, aber dass sie halt nicht nur die Superreichen trifft, sondern auch irgendwelche KMUs zum Beispiel, bei denen eine Übernahmeregelung stattfindet. Wie sehen Sie das? Sehen Sie diese Problematik?
Das ist natürlich so, dass wenn ich zum Beispiel ein Unternehmen viele Jahre besessen habe und es immer wertvoller geworden ist und es dann verkaufen muss, aus welchen Gründen auch immer – es könnte mein Start-Up sein, was ein paar Jahre gewachsen ist und ich verkaufe es jetzt an eine grössere Firma, es könnte ein Familienbetrieb sein, der über eine Generation angewachsen ist und es geht an die nächste Generation oder einen anderen Käufer ausserhalb der Familie – dann wären in diesem einzelnen Jahr, wo diese Übertragungen stattfinden, natürlich die Kapitalgewinne, die ich dann auch realisieren muss, sehr, sehr hoch. Das heisst, es fällt in dieser „Lumpenform“ an, sagt man, dass ich viele Jahre keine Kapitalgewinne realisiere, aber dann in einzelnen Jahren eventuell sehr hoch und ich dann dadurch über diese Freigrenze auch kommen könnte. Und das würde natürlich dann solche Transaktionen treffen, wenn ich die Steuer tatsächlich nur basierend auf dem realisierten Kapitalgewinn erhebe.
Also lesen Sie das auch aus der Initiative raus, dass man das dann tun müsste, oder gibt es bei der Umsetzung da noch Spielräume, wie man das umgehen kann?
Ja, es gäbe – das ist in der Initiative so nicht vorgesehen, aber es gäbe schon auch Lösungen für diese Probleme, die ja auch in anderen Ländern, die Kapitalgewinnsteuern schon länger haben, die haben dieselben Probleme, auch diskutiert werden. Man könnte zum Beispiel weggehen von einer reinen realisierungsbezogenen Besteuerung, also nur in dem Jahr, wo auch die Transaktion stattfindet. Hin zu einer, die das mehr verteilt über die Jahre hinweg, wann die Kapitalgewinne auch entstanden sind. Also eine Kapitalgewinnsteuer auf die Buchwertzunahme, nicht nur, wenn auch die Markttransaktion stattfindet. Was auch wieder mit eigenen Problemen dann zusammenhängt, die man auch bei der Vermögenssteuer hat. Also dadurch würde die Steuer dann ein bisschen ähnlicher wieder, wie die Vermögenssteuer, die eigentlich so etwas Ähnliches macht, ich muss jedes Jahr eine Steuerlast abführen, nicht nur dann, wenn ich jetzt mein Unternehmen verkaufe, sondern auch, wenn ich es einfach nur besitze.
Glauben Sie denn, dass die Initiative, respektive die Einführung einer solchen Kapitalgewinnsteuer; hätte sie einen dämpfenden Einfluss auf die Ungleichheit im Land? Hätte sie einen umverteilenden Mechanismus, wie sich die Initianten das auch wünschen?
Davon ist auszugehen. Sie würde ja eindeutig die hohen Kapitaleinkommen und Gewinne stärker belasten. Dadurch gäbe es einen mechanischen Effekt auf die Ungleichheit nach Steuern. Die Frage ist nur, wie stark dann auch die tatsächlichen Einnahmen ausfallen würden, wenn es Ausweichreaktionen gibt, wenn es eine Dämpfung der Wirtschaftsleistungsfähigkeit gibt, und so weiter. Das wäre natürlich dann nicht der mechanische Effekt. Man könnte nicht davon ausgehen, dass so viele Kapitalgewinne, wie es jetzt gibt, dann immer noch stattfinden würden, weil man sie jetzt plötzlich besteuert. Sondern das würde schon zurück gehen. Es würden sich auch Ausweichreaktionen, denke ich.
Das sind alles hypothetische Szenarien, über die man jetzt noch nicht viel Bescheid weiss.
Genau, also das ist natürlich was, was man abschätzen kann, anhand der Erfahrungen in anderen Ländern, anhand von Steuerreformen in anderen Ländern. Das ist eine empirische Frage, wie stark diese Ausweichreaktionen wären. Was man aber sagen kann, ist, dass der mechanische Effekt, die Einnahmenschätzungen, die so jetzt in der Initiative genannt werden, die würden sicherlich nicht eintreten, weil die sind die absolute Obergrenze von dem, was passieren würde, wenn es keinerlei Ausweichreaktionen gäbe.
Was sagt Ihr Bauchgefühlt? Wie würden Sie sich das vorstellen? Sie haben angesprochen, dass es Studien gibt über Steuerreformen. Wie würden wir uns die Schweiz vorstellen, wenn die Initiative durchkommt an der Urne?
Also das ist hypothetisch. Man kann ja auch nicht von anderen Ländern eins zu eins übertragen. Aber klar, wir wissen, dass Kapitalgewinne vor allem relativ elastisch, also relativ stark auf Steueränderungen reagieren. Auch, weil sie relativ mobil sind. Weil man von der zeitlichen Abfolge dieser Realisierungen der Kapitalgewinne relativ viel manipulieren kann, wann die Steuer dann auch wirklich gezahlt werden muss, und nicht. Und insofern würde ich mir schon relativ starke Ausweichreaktionen vorstellen können.
Gäbe es denn andere Mittel, die man noch ergreifen könnte zur Reduktion der Ungleichheit?
Also, wenn das das politische Ziel ist, was ja eine politische Frage ist. Wir haben ja schon Umverteilungen in der Schweiz und ein progressives Steuersystem. Das ist nicht ganz klar, und wir haben auch genannt am Anfang, dass die Einkommensverteilung relativ ausgeglichen ist im internationalen Vergleich, die Vermögensverteilung nicht. Das heisst, es ist eine politische Frage, wie viel man da tolerieren will, wie viel Umverteilung man haben will. Aber wenn das das Ziel ist, wäre es eigentlich sauberer, glaube ich, im System der Schweiz zu bleiben, dass auf die Vermögenssteuer ja schon setzt. Und zu sagen: „Okay, wir haben eine Vermögenssteuer. Die ist jetzt noch nicht so progressiv ausgestaltet, wie man vielleicht gehen könnte. Wenn wir dabei dem Vermögen mehr tun wollen, könnte man zum Beispiel die Vermögenssteuer progressiver ausgestalten.“ Das wäre eine politische Möglichkeit. Eine andere politische Möglichkeit, die, glaube ich, von vielen Ökonomen bevorzugt werden würde, die in der Bevölkerung tendenziell recht unbeliebt ist, wäre die Erbschaftssteuer, die ja massiv auf dem Rückzug ist, in vielen Ländern, in vielen Kantonen, auch in der Schweiz abgeschafft worden ist. Die aber eigentlich aus ökonomischer Sicht eine sehr gute Steuer ist, weil sie ja für Chancengleichheit steht, für Ausgleich über die Generation hinweg, dass jeder im Leben dieselben Start-Chancen hat und nicht so sehr vorgegeben bekommt, durch den Erfolg der Eltern, wie gut es einem geht im Leben. Aus der Sicht wird es eigentlich als eine sehr faire Steuer empfunden. Sie hat natürlich auch Implementierungsprobleme, dass es oft die Frage ist, wie man dann, grade auch bei Unternehmensübertragungen und so weiter, wie man dann die Liquidität sicherstellt, und so weiter. Aber eine zumindest moderate Erbschaftssteuer wäre, glaube ich, auch eine gute Möglichkeit bei der Vermögensverteilung etwas mehr umzuverteilen. Wenn das das politische Ziel ist.
Wie sieht es zum Beispiel mit Förderungsmitteln für Bildung aus? Ist das auch ein Mittel?
Genau, also wenn man jetzt von der Steuerpolitik etwas wegtritt und im grösseren Rahmen sich das anguckt, dann ist es, glaube ich, wirklich essenziell, wie man die Chancengleichheit und die Mobilität der Einkommen über die Generationen hinweg, und auch soziale Mobilität, fördert. Und da ist Steuerpolitik immer so ein bisschen ein spätes Instrument, um dann noch zu korrigieren, wenn die Einkommen schon da sind. Aber ich glaube, die Grundlagen dafür werden schon viel früher gelegt und treten eben schon auf mit den Bildungschancen, mit der Bildungsmobilität und solchen Massnahmen, die wirklich essenziell sind.
Florian Scheuer, besten Dank für das Gespräch.
Vielen Dank.
Dieses Interview wurde ursprünglich vom «Schweizer Monat» als Studio Libero No.18 am 13. September 2021 aufgezeichnet. Transkribiert und für Layoutzwecke bearbeitet vom UBS Center.
Florian Scheuer, wie gravierend ist global gesehen, das Problem der Ungleichheit?
Florian Scheuer received his PhD from MIT in 2010. He is interested in the policy implications of rising inequality, with a focus on tax policy. In particular, he has worked on incorporating important features of real-world labor markets into the design of optimal income and wealth taxes. These include economies with rent-seeking, superstar effects or an important entrepreneurial sector, frictional financial markets, as well as political constraints on tax policy and the resulting inequality. His work has been published in the American Economic Review, the Journal of Political Economy, the Quarterly Journal of Economics and the Review of Economic Studies, among other journals. In 2017, he received an ERC starting grant for his research on “Inequality - Public Policy and Political Economy.” Before joining Zurich, he was on the faculty at Stanford, held visiting positions at Harvard and UC Berkeley and was a National Fellow at the Hoover Institution. He is Co-Editor of Theoretical Economics and Member of the Board of Editors of the Review of Economic Studies. He is also a Co-Director of the working group on Macro Public Finance at the NBER. He has commented on tax policy in various US and Swiss media outlets.
Florian Scheuer received his PhD from MIT in 2010. He is interested in the policy implications of rising inequality, with a focus on tax policy. In particular, he has worked on incorporating important features of real-world labor markets into the design of optimal income and wealth taxes. These include economies with rent-seeking, superstar effects or an important entrepreneurial sector, frictional financial markets, as well as political constraints on tax policy and the resulting inequality. His work has been published in the American Economic Review, the Journal of Political Economy, the Quarterly Journal of Economics and the Review of Economic Studies, among other journals. In 2017, he received an ERC starting grant for his research on “Inequality - Public Policy and Political Economy.” Before joining Zurich, he was on the faculty at Stanford, held visiting positions at Harvard and UC Berkeley and was a National Fellow at the Hoover Institution. He is Co-Editor of Theoretical Economics and Member of the Board of Editors of the Review of Economic Studies. He is also a Co-Director of the working group on Macro Public Finance at the NBER. He has commented on tax policy in various US and Swiss media outlets.